Die Einladung zur Verfassung dieses Essays erfolgte durch die Redaktion der Rubrik „Die Gegenwart“ der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Anschluss an den Sozialpädiatrie-Kongress in Bielefeld 2011.

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This article in English: The dark side of childhood


Der Artikel wurde vom Deutschen Hochschulverband in seine Sammlung herausragender wissenschaftlicher Publikationen des Jahres 2012 aufgenommen:


Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.4.2012

Die dunkle Seite der Kindheit

Kleinkinder dauerhaftem Stress auszusetzen, ist unethisch, verstößt gegen Menschenrecht, macht akut und chronisch krank. Dieses Wissen hindert die Bundesregierung und Wirtschaftsverbände nicht daran, die Erhöhung der Zahl der außerfamiliären Betreuungsplätze zum Ausweis moderner Familienpolitik zu stilisieren. Eine Analyse der Risiken und Nebenwirkungen der deutschen Krippenoffensive.

Von Dr. Rainer Böhm

Geht es nach der Bundesministerin Kristina Schröder (CDU), dann wird es im kommenden Jahr in Deutschland 750 000 Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren geben, die meisten davon in Krippen. Dieses Ziel der Familienpolitik ist ehrgeizig: Bezogen auf drei Geburtsjahrgänge entspräche die Vorgabe der Bundesregierung einer außerfamiliären Betreuungsquote von 47 Prozent. Verteilte man die Plätze nur auf Ein- und Zweijährige, dann betrüge die Quote annähernd 70 Prozent.

Soll das Lebensumfeld der Kleinstkinder derart einschneidend verändert werden, ist eine hohe Sensibilität bei der Planung und der Einführung des nahezu flächendeckenden Angebots an Betreuungsmöglichkeiten unabdingbar. Doch auch damit ist es noch nicht getan. Ebenso unabdingbar ist es, die gesetzlichen Vorgaben an dem jeweils aktuellen Stand der psychologischen, medizinischen und anthropologischen Forschung auszurichten. In dieser Hinsicht sind den politischen Entscheidungsträgern schwerwiegende Versäumnisse vorzuwerfen.

Im Kreis der Industrienationen ist Deutschland, zumindest in den Grenzen der alten Bundesrepublik, in Bezug auf außerfamiliäre Betreuung eher ein Nachzügler. Diese Position bietet aber auch die Chance, Fehler zu vermeiden, die andere gemacht haben. Es lohnt sich also, einen Blick ins Ausland zu werfen, etwa in die Vereinigten Staaten und damit in ein Land, das einer der Vorreiter auf dem Feld der außerfamiliären Kinderbetreuung ist.

Dort haben die Globalisierung und eine staatlich tolerierte, zunehmende Ungleichheit der Erwerbseinkommen dazu geführt, dass aufgrund ökonomischer Zwänge der Doppelverdienerhaushalt seit den achtziger Jahren zur Regel geworden ist. Parallel dazu stieg die Nachfrage nach einem System umfassender Kinderbetreuung bis herab zum Säuglingsalter. Inzwischen ist daycare, die Tagesbetreuung für Säuglinge und Kinder von null bis vier Jahren, zusammen mit „preschool“ und „kindergarten“ der Regelfall.

Indes entbrannte in den Vereinigten Staaten gleichfalls in den achtziger Jahren eine Debatte über die Frage, ob kleine Kinder in diesem grundlegend veränderten Umfeld nicht womöglich Schaden nähmen. Wissenschaftliche Untersuchungen erbrachten zunächst uneinheitliche Ergebnisse. Für Unruhe sorgte die Längsschnittstudie des Entwicklungs­psychologen Thomas Achenbach (Universität Vermont), der an mehr als 3000 Schülern einen deutlichen Rückgang sozioemotionaler Kompetenzen feststellte. Im Vergleich zu den Siebziger Jahren waren amerikanische Kinder 15 Jahre später verschlossener, mürrischer, unglücklicher, ängstlicher, depressiver, aufbrausender, unkonzentrierter, fahriger, aggressiver und häufiger straffällig. Sie zeigten bei 42 Verhaltensindikatoren schlechtere Ergebnisse, bei keinem Kriterium schnitten sie besser ab.

Um diese auch als „child care wars“ bezeichneten Auseinandersetzungen zu befrieden, wurde eine Großstudie ins Auge gefasst. Unter der Regie des renommierten National Institute of Child Health and Development (NICHD) entwickelte eine Gruppe weltweit führender Spezialisten für frühkindliche Entwicklung Anfang der neunziger Jahre ein ausgefeiltes Untersuchungsdesign, in dem nahezu alle Faktoren berücksichtigt wurden, die für die kindliche Entwicklung relevant  sind. Daraufhin wurden mehr als 1300 Kinder, überwiegend aus weißen Mittelschichtfamilien, im Alter von einem Monat in die Studie aufgenommen. Über einen Zeitraum von fünfzehn Jahren wurden sodann die kognitive Entwicklung und das Verhalten der Kinder detailliert gemessen. Erhoben wurden überdies der Bildungsstand, der sozioökonomische Status und der Familienstand der Eltern, dazu verschiedene Dimensionen der Eltern-Kind-Interaktion sowie eine Vielzahl an Daten zur außerfamiliären Betreuung wie Art der Einrichtung, Besuchsdauer und Betreuungsqualität. Dieser weltweit einzigartige Datensatz wurde bis heute in über 300 wissenschaftlichen Publikationen ausgewertet und steht auch externen Forschern für eigene Analysen zur Verfügung.

In Deutschland wurden die Ergebnisse der Studie im vergangenen Jahr wurden während des Kinderärztekongresses in Bielefeld vorgestellt. Wie Jay Belsky, ein Psychologe aus San Francisco, berichtete, konnte nachgewiesen werden, dass die Eltern-Kind-Bindung durch außerfamiliäre Betreuung nicht grundsätzlich negativ beeinflusst wird. Unzweifelhaft ist aber auch, dass sehr frühe und umfangreiche Betreuung von zweifelhafter Qualität mit erheblichen Risiken für das Bindungsmuster zwischen Mutter und Kind einhergeht. Damit erhöht sich auch das Risiko, später an einer psychischen Störung zu erkranken. Hohe Betreuungsqualität führte, im Vergleich zu geringerer Qualität, zu etwas besseren kognitiven Leistungen im Vorschulalter. Dieser Unterschied war auch noch in der Sekundarstufe nachweisbar. Die Dauer außerfamiliärer Betreuung hatte hingegen keinen signifikanten Einfluss auf die schulischen Leistungen.

Am beunruhigendsten war indes der Befund, dass Krippenbetreuung sich unabhängig von sämtlichen anderen Messfaktoren negativ auf die sozioemotionalen Kompetenzen der Kinder auswirkt. Je mehr Zeit kumulativ Kinder in einer Einrichtung verbrachten, desto stärker zeigten sie später dissoziales Verhalten wie Streiten, Kämpfen, Sachbeschädigungen, Prahlen, Lügen, Schikanieren, Gemeinheiten begehen, Grausamkeit, Ungehorsam oder häufiges Schreien. Unter den ganztags betreuten Kindern zeigte ein Viertel im Alter von vier Jahren Problemverhalten, das dem klinischen Risikobereich zugeordnet werden muss. Später konnten bei den inzwischen 15 Jahre alten Jugendlichen signifikante Auffälligkeiten festgestellt werden, unter anderem Tabak- und Alkoholkonsum, Rauschgiftgebrauch, Diebstahl und Vandalismus. Noch ein weiteres, ebenfalls unerwartetes Ergebnis kristallisierte sich heraus: Die Verhaltensauffälligkeiten waren weitgehend unabhängig von der Qualität der Betreuung. Kinder, die sehr gute Einrichtungen besuchten, verhielten sich fast ebenso auffällig wie Kinder, die in Einrichtungen minderer Qualität betreut wurden. Grundsätzlich zeigte sich aber, dass das Erziehungsverhalten der Eltern einen deutlich stärkeren Einfluss auf die Entwicklung ausübt als die Betreuungseinrichtungen.

Die Autoren der NICHD-Studie leiteten aus diesen Ergebnissen zahlreiche Empfehlungen ab. Kurz gefasst lauten diese: Die Qualität der Betreuung müsse gesteigert werden, die Dauer der Betreuung sei zu reduzieren, während die Eltern in ihrem Erziehungsauftrag gestärkt werden müssten. In den Vereinigten Staaten hat man sich allenfalls des ersten Punktes angenommen. In Deutschland wiederum sind die Politiker auf dem besten Weg, die erste und dritte Empfehlung nicht ernst zu nehmen und die zweite Empfehlung – die Verringerung der Betreuungsdauer –  in ihr Gegenteil zu verkehren.

Warum dieses Vorgehen mehr als bedenklich ist, zeigen wissenschaftliche Daten, die in den letzten zehn Jahren erhoben wurden. Sie belegen, dass es sich bei den Verhaltensauffälligkeiten, die in der NICHD-Studie registriert wurden, nur um die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs handelt. Dank einer neuen Technik konnten Wissenschaftler in den Vereinigten Staaten Ende der neunziger Jahre bei Kleinkindern in ganztägiger Betreuung in zwei Daycare Centers erstmals das Tagesprofil des wichtigsten Stresshormons Cortisol bestimmten. Entgegen dem normalen Verlauf im Kreis der Familie – hoher Wert am Morgen und kontinuierlicher Abfall zum Abend hin – stieg die Ausschüttung des Stresshormons während der ganztägigen Betreuung im Verlauf des Tages an – ein untrügliches Zeichen einer erheblichen chronischen Stressbelastung. In der ersten Einrichtung, deren Betreuungsqualität als gehoben gelten konnte, zeigten fast alle Kinder diesen auffälligen Verlauf. In der zweiten Einrichtung mit sehr hoher Betreuungsqualität standen am Abend immerhin noch fast drei Viertel der Kinder unter abnormem Stress. Eine Metaanalyse einer niederländischen Wissenschaftlerin, die neun ähnliche Folgestudien auswertete, hat diese Ergebnisse bestätigt.  Somit muss als gesichert gelten, dass besorgniserregende Veränderungen des Cortisolprofils vor allem bei außerfamiliärer Betreuung von Kleinkindern auftreten, und das selbst bei qualitativ sehr guter Betreuung.

Jene Cortisol-Tagesprofile, wie sie bei Kleinkindern in Kinderkrippen nachgewiesen wurden, lassen sich am ehesten mit den Stressreaktionen von Managern vergleichen, die im Beruf extremen Anforderungen ausgesetzt sind. Bei Kindern liegen die Hormonwerte weit jenseits der milden und punktuellen Aktivierungen des Stresssystems, die als entwicklungsförderlich anzusehen sind. Vielmehr muss in der chronischen Stressbelastung eine Ursache dafür gesehen werden, dass Krippenkinder häufiger erkranken. Sie leiden nicht nur öfter an Infektionen, sondern auch an Kopfschmerzen oder immunologischen Störungen wie Neurodermitis.

Aus der psychobiologischen Forschung ist bekannt, dass chronische Stressbelastung ein Kernphänomen bei misshandelten und vernachlässigten Kindern darstellt. Die amerikanische Anthropologin Meredith Small bezeichnete Stress, sexuelle Übergriffe und Gewalt daher auch als „dunkle Seite der Kindheit“: Die dauerhafte Aktivierung des Stresssystems mündet oft in einer Erschöpfungsreaktion: Das Stressregulationssystem geht sozusagen unter dem Stress-Trommelfeuer in die Knie. Genau dieser Effekt wurde jetzt auch in Wien in einer Studie über Kinderkrippen nachgewiesen. Vor allem Kinder im Alter unter zwei Jahren zeigten nach fünf Monaten qualitativ durchschnittlicher Krippenbetreuung stark abgeflachte Cortisol-Tagesprofile – vergleichbar mit den Werten, die in den neunziger Jahren bei zweijährigen Kindern in rumänischen Waisenhäusern gemessen wurden. Diese Befunde lassen keinen anderen Schluss zu als den, dass eine große Zahl von Krippenkindern durch die frühe und langdauernde Trennung von ihren Eltern und die ungenügende Bewältigung der Gruppensituation emotional massiv überfordert ist.

Wie sich diese Überforderung im späteren Leben auswirken kann, lässt sich mittlerweile der NICHD-Studie entnehmen. Kürzlich wurden die morgendlichen Cortisol-Werte der inzwischen 15 Jahre alten Studienteilnehmer gemessen. Bei den Probanden, die schon früh ganztags betreut worden waren, zeigten sich die gleichen Veränderungen wie bei Kindern, die in der Familie emotional vernachlässigt oder misshandelt worden waren. Besonders fällt auf, dass die Effekte in beiden Gruppen gleich stark waren, dass die Veränderungen unabhängig von der Qualität der Betreuung auftraten und dass sich die Stresseffekte von Tagesbetreuung und familiärer Vernachlässigung addierten. Mit anderen Worten: Die Krippenbetreuung wirkte sich weder kompensatorisch noch schützend aus. Alles in allem steht damit fest, dass Krippenbetreuung die Stressregulation auch langfristig negativ beeinflusst. Und: Das in der Öffentlichkeit verbreitete Mantra ist falsch, alle Probleme der Krippenbetreuung ließen sich alleine mit Qualität lösen.

In den vergangenen Jahren ist in einer Fülle von Publikationen dargelegt worden, dass und wie chronische Stressbelastungen die Entwicklung des Gehirns beeinträchtigen, speziell die Zentren für die Stressregulation und die sozioemotionale Kompetenz. Nun zählen die beiden ersten Lebensjahre zu den besonders heiklen Phasen der Entwicklung des Gehirns. In dieser sensiblen Periode gräbt sich chronischer Stress sogar in die Gene ein und führt auf dem Weg sogenannter epigenetischer Mechanismen zu dauerhaften Regulationsstörungen, die sogar an die folgenden Generationen vererbt werden können. Die Wissenschaft weiß mittlerweile, dass chronische Stressbelastung durch kindliche Vernachlässigung und Misshandlung mit einem langfristig deutlich erhöhten Risiko verbunden ist, an schwer behandelbarer Depression zu erkranken oder aber Suizid zu begehen. Neben psychischen Störungen geht mit chronischem Stress auch ein erhöhtes Risiko für körperliche Krankheiten einher wie Herz-Kreislauf­erkrankungen und Fettsucht, ja sogar für Krebs.

Säuglinge und Kleinkinder können Stressbelastungen noch nicht in Worte fassen. Auch in ihrem Verhalten sind Anzeichen für chronischen Stress oft diskret, wenn nicht fast unmerklich. Jetzt haben die neuen Techniken zur Messung von Stress ein weiteres Fenster zur Seele des Kleinkinds geöffnet. Derzeit fällt es vielen noch schwer, das Bild anzunehmen, das diese neuen, objektiven Messdaten zu erkennen geben. Aber es führt kein Weg um die Einsicht herum, dass die Mehrheit ganztagsbetreuter Krippenkinder, selbst wenn sie bestenfalls in schönen Räumen mit anregendem Spielzeug von engagierten Erziehern oder Erzieherinnen betreut wird, den Tag in ängstlicher Anspannung verbringt, dass sich dies bei einem Teil der Kinder in anhaltenden Verhaltensauffälligkeiten niederschlägt, und dass mit dieser Form der Betreuung Risiken für die langfristige seelische und körperliche Gesundheit einhergehen. Die Gesellschaft muss sich also der Tatsache stellen, dass sich emotionale Misshandlung nicht nur unter familiären oder institutionellen Deprivations­bedingungen, sondern – unbeabsichtigt – häufig auch im kognitiv stimulierenden Umfeld einer Krippe ereignet.

Indes hat sich selbst die Kinder- und Jugendmedizin in Deutschland diesem Thema bislang nicht eingehend gestellt. Noch im Jahr 2008 hieß es in der „Monatsschrift Kinderheilkunde“, dass es keinen einzigen Artikel gebe, in dem Daten zum Thema Krippen und Gesundheit in Deutschland in einer peer-reviewed-Zeitschrift publiziert wurden und der somit eine datengestützte Antwort auf die Frage geben könnte, inwieweit mit der Kinderbetreuung in einer Krippe erhöhte (oder auch verminderte) gesundheitliche Risiken verbunden sind. Dieser Befund ist umso bemerkenswerter, als die damalige Bundesfamilienministerin von der Leyen (CDU) das Ziel ausgab, binnen weniger Jahre 750 000 Kinder in U3-Betreuung zu haben.

In dieser Situation erfordert das „primum nil nocere“ – das erste Gebot ärztlichen Handelns, keinen Schaden zuzufügen – größere Anstrengungen. Niemand kann exakt vorhersehen, wie sich ein einzelnes Kind in Betreuung entwickeln wird. Zu vielfältig sind die Faktoren, die Einfluss auf die kindliche Entwicklung nehmen. Wichtig neben den familiären Lebensumständen ist vor allem die genetische Ausstattung eines Kindes, denn sie ist mitursächlich für die Resilienz gegenüber Belastungssituationen. Fachleute müssen Eltern und Politikern jedoch angemessene Informationen über statistisch erfassbare Risiken der U3-Betreuung geben.

Dieses Risiko liegt für Verhaltensauffälligkeiten in einem moderaten Bereich. Hinsichtlich einer chronischen Beeinträchtigung des emotionalen Wohlbefindens ist das Risiko jedoch stark erhöht. Nicht zu verschweigen ist ferner ein erhöhtes Risiko für späte seelische Erkrankungen.

Erhöhte Stressbelastung und vermehrte Verhaltensauffälligkeiten wurden mittlerweile auch bei ersten systematischen Untersuchungen zur U3-Betreuung in Tagespflege gefunden. Durch nichts zu belegen ist dagegen die Hoffnung auf Förderung des Sozialverhaltens, die viele Eltern derzeit einen frühen Krippenbesuch in Betracht ziehen lässt. Eine signifikante, moderate Förderung der Lernleistungen kann nur bei hoher Betreuungsqualität erwartet werden. Diese ist in deutschen Krippen derzeit nur in Ausnahmefällen anzutreffen. Die von der Bertelsmann-Stiftung mit großem publizistischen Aufwand plakatierte hohe Rate an Gymnasialanmeldungen nach Krippenbetreuung ist daher eher auf höhere Ansprüche der Eltern zurückzuführen und nicht auf einen tatsächlichen Gewinn kognitiver Fähigkeiten.

Anstatt dass die Erziehungsleistung der Eltern von politischer oder gesellschaftlicher Seite schleichend entwertet wird, muss Müttern und Vätern die Bedeutung bewusst gemacht werden, die ihre liebevolle und kontinuierliche Präsenz für die gesunde seelische Entwicklung ihrer Kinder gerade in deren ersten Lebensjahren hat. Die herkömmliche Aufteilung von familiären Aufgaben kann durchaus überdacht werden. Während Mütter durch Geburt und Stillzeit die Hauptbeziehungsperson der ersten Lebensphase sind, sollten Väter darin bestärkt und gefördert werden, diese Rolle häufiger im fortgeschrittenen Kleinkindalter ihrer Kinder zu übernehmen.

Aufgrund der dargelegten Risiken ist es unumgänglich, dass alle Eltern die Entscheidung über eine mögliche frühe außerfamiliäre Betreuung frei von ökonomischen Zwängen treffen können. Hierfür muss der Grundsatz „the money goes with the child“ (das Geld geht mit dem Kind) wegweisend werden. Die Wahlfreiheit für Eltern könnte über ein Kinder-Grundeinkommen oder ein Betreuungsgeld sichergestellt werden, wie es mittlerweile in allen skandinavischen Ländern gezahlt wird und deutlich höher ist, als die eher symbolische Summe, die in Deutschland zur Debatte steht. Es wäre dann in das Ermessen der Eltern gestellt, ob sie sich ganz der Erziehung der Kinder widmen oder Kind und Geld einer außerfamiliären Betreuungsinstanz anvertrauen möchten, um selbst einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Wissenschaftlich fundierte und evidenzbasierte Vorbehalte gegenüber früher Krippenbetreuung dürfen freilich nicht dazu führen, dass auf die frühe Förderung jener Gruppe von Kindern verzichtet wird, die besonderen sozialen oder biologischen Entwicklungsrisiken ausgesetzt sind. Allerdings zeigen alle Studien, dass auch diese Kinder in ihren ersten Lebensjahren im Rahmen ihrer Familie und in Anwesenheit ihrer primären Bindungspersonen gefördert werden sollten, etwa durch Familienhebammen, Elterntrainings, heilpädagogische Frühförderung, sozialpädagogische Familienhilfe oder auch in gemeinde- oder stadtteilzentrierten Kleinkind-Spielgruppen. Für alle diese Maßnahmen liegen Wirksamkeitsnachweise vor.

Die deutsche „Krippenoffensive“ geht wesentlich auf die massive politische und publizistische Lobbyarbeit von Wirtschaftsverbänden zurück, die angesichts der demographischen Entwicklung versuchen, Arbeitskraftreserven auch unter jungen Eltern zu mobilisieren. So wird etwa in Publikationen wirtschaftsnaher Institute versucht, den Begriff „Familienfreundlichkeit“ wesentlich über das Angebot an Krippenbetreuungsplätzen zu definieren. Die Bertelsmann-Stiftung, der operative Arm des größten europäischen Medienkonzerns, bereitet seit Jahren systematisch den Boden für eine langfristig geplante Expansion der Konzernaktivitäten ins lukrative und konjunkturunabhängige Bildungsgeschäft. Dabei wird auch die Meinungsführerschaft im Sektor frühkindliche Bildung angestrebt. Kritische Stimmen werden marginalisiert, andere dagegen in eigene „Studien“ eingebunden, die die Konzernziele unterstützen. Auch die Betreuungsbranche macht sich für die Ausweitung des Krippenangebots stark, da sie sich von diesem Schritt Wachstumschancen erwartet, die durch staatliche Subventionierung abgesichert sind. Marktchancen winken auch Fachverlagen, die sich einen neuen Publikationssektor erschließen können. Universitäten und Fachschulen schließlich hoffen auf Steuergelder für neue Ausbildungsgänge.

Der Eigendynamik all dieser Entwicklungen muss mit besonderer Wachsamkeit begegnet werden. Auf der Basis der NICHD-Studie und der neuen Ergebnisse der Stressforschung wurde daher während des Kinderärztekongresses in Bielefeld ein Vorschlag zu einer entwicklungsmedizinisch evidenzbasierten Empfehlung unterbreitet. Erstens: Keine Gruppentagesbetreuung von Kindern unter zwei Jahren. Zweitens: Zwischen dem zweiten und dritten Geburtstag maximal halbtägige Betreuung von bis zu zwanzig Stunden in der Woche. Drittens: Ab dem dritten Geburtstag je nach individueller Bereitschaft ganztägige Betreuung möglich. Viertens: Konsequente Orientierung an hohen Qualitätsstandards in jeglicher außerfamiliärer Betreuung. Notwendig sind außerdem wissenschaftliche Begleitstudien sowie eine laufende Anpassung von Empfehlungen an den aktuellen Stand der Forschung. Dabei muss auch die bisher völlig vernachlässigte Stressbelastung von berufstätigen Eltern kleiner Kinder und von Krippenerzieherinnen in den Blick genommen werden.

Chronische Stressbelastung ist im Kindesalter die biologische Signatur der Misshandlung. Kleinkinder dauerhaftem Stress auszusetzen, ist unethisch, verstößt gegen Menschenrecht, macht akut und chronisch krank. Ein freiheitlicher Staat, der frühkindliche Betreuung in großem Umfang fördert, ist verpflichtet nachzuweisen, dass die betroffenen Kleinkinder keine chronische Stressbelastung erleiden. Der Gesetzgeber sollte daher von seinen derzeitigen Planungen Abstand nehmen, ein Recht auf außerfamiliäre Betreuung ab dem ersten Geburtstag einzuführen.

 Verfasser:

Dr.med. Rainer Böhm

Kinder- und Jugendarzt, Schwerpunkt Neuropädiatrie, Psychosomatische Grundversorgung

Leitender Arzt des Sozialpädiatrischen Zentrums Bielefeld-Bethel

Tagungspräsident der 63. wissenschaftlichen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ), Bielefeld 2011

Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der 107. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin (DGKJ) 2011

Mitglied im Expertenbeirat des Instituts für Bindungswissenschaften

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