Bildung ist einer der Schlüsselbegriffe unserer modernen westlichen Gesellschaften. Keine politische Partei kann es sich heute mehr leisten, Bildung nicht als zentrales Betätigungsfeld auszuweisen. Bildung gilt als der Königsweg zum Bestehen im internationalen Wettbewerb, zur Sicherung von „Wohlstand“ sowie zur Minderung sozialer Ungleichheit.
Der zugrundeliegende Bildungsbegriff ist dabei in der Regel stark auf die kognitive Leistungsebene konzentriert. Für Krippen, Kindergärten, Schulen, Universitäten werden Lernzielkataloge definiert. Es werden einheitliche Standards entwickelt, um Lernergebnisse, möglichst weltweit, messbarer zu machen. PISA, als bekanntestes Instrument, steht exemplarisch für diese Entwicklung. Gleichzeitig wird versucht, die Bildungsinhalte in möglichst kurzer Zeit zu vermitteln, um die volkswirtschaftliche Effizienz des Humankapitals zu steigern
Parallel steigt bei vielen Betroffenen das Unbehagen über hierdurch in Gang gesetzte Entwicklungen. Eltern klagen über zu frühe Einschulung ihrer Kinder, Gymnasiasten leiden unter dem G8-Turbo, Studenten sind durch die Verdichtung der Bachelor-Studiengänge belastet, vermissen die erhoffte Vielfalt und Freiheit einer akademischen Ausbildung.
Unser Bildungssystem krankt zunehmend an seiner Überwältigung durch die Effizienzforderungen einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft. Bildung muss mehr sein als Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt. Selbst der höchstrangig besetzte Aktionsrat Bildung beschreibt mittlerweile die „Gefahr einer `Überkognitivierung´ und der Ignoranz gegenüber humanen Bildungswerten“.
Das Bildungssystem gerät dabei zunehmend auch in den Fokus der Medizin: Bildung kann krank machen. Übersteigerte Anforderungen an zeitliche Verfügbarkeit, Verlust von Familien- und Freizeit, Überfrachtung von Lehrplänen, Leistungsdruck, mangelhafte Ausstattung der Bildungsinstitutionen, primäre Sozialisation in peer groups, all dies fördert stressassoziierte Krankheitsbilder, u.a. sozioemotionale Störungen, Angststörungen, Depression. Hat sich die Medizin, speziell die Neurowissenschaften, bisher vor allem um Aspekte der Lernphysiologie gekümmert, so muss sie sich jetzt zunehmend auch mit den negativen seelischen Folgen eines entgleisenden Bildungssystems auseinandersetzen.
Am dramatischsten zeigt sich dies derzeit im Bereich der sogenannten frühkindlichen Bildung. Befeuert von den Renditeberechnungen des Ökonomen und Nobelpreisträgers James Heckman findet aktuell eine starke Expansion frühkindlicher Gruppenbetreuung statt. Aktuelle Studien zeigen, dass hierdurch massive chronische Stressbelastungen in hochsensiblen Phasen der frühen Hirnentwicklung ausgelöst werden, deren erhebliche Risiken für die langfristige seelische Gesundheit derzeit in Grundzügen sichtbar werden.
Unsere Bildungspolitik ist, wie viele andere Politikfelder, nicht hinreichend auf Nachhaltigkeit ausgelegt. Wir brauchen dringend eine stärkere Berücksichtigung sozioemotionaler Bildungsziele. Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts werden wir nicht mit leistungsoptimierten, aber instabilen Persönlichkeiten bewältigen können. Für eine lebenswerte Zukunft müssen wir eine „empathische Zivilisation“ (Jeremy Rifkin) als oberstes Bildungsziel anstreben. Eine in diesem Sinne ganzheitliche Bildungspolitik erfordert gemeinsame Anstrengungen, in die auch die naturwissenschaftlichen und medizinischen Fächer einbezogen werden müssen.
Dr. med. Rainer Böhm